Da war er nun, der große Tag, der Tag für den ich mir mal wieder vorgenommen habe, einen Marathon in weniger als 3 Stunden zu beenden. Sonntag, 15. Oktober 2000. München Marathon. Die Tage vorher hatte ich schon massive Bedenken, ob denn das Training ausgereicht hat? Infolge exzessiver, beruflich bedingter Reisetätigkeit und nicht gerade geringer Auslastung, war doch die eine oder andere Trainingseinheit ausgefallen. Insbesondere waren es auch die langen Läufe, die hin und wieder dem Wetter zum Opfer fielen. Wer läuft schon gerne bei stömenden Regen los, wenn keine Aussicht auf Besserung besteht, und das bei einem 3 Stunden Lauf? Jedenfalls war ich bei den schnellen Einheiten fleißiger, von denen sind nur wenige ausgefallen, wenn auch die meßbaren 800m Zeiten gegen Ende der Vorbereitung doch wieder etwas langsamer wurden. An guten Tagen absolvierte ich 8 x 800m Einheiten mit Zeiten von ca. 3min pro Einheit, gegen Ende der Vorbereitung war ich eher wieder bei 3:05min angelangt.
Egal, das konnte ich nun eh’ nicht mehr ändern. Also wenigstens noch die letzte Woche vor dem Marathon möglichst optimal gestaltet: Von Montag bis Mittwoch gab es keine Kohlenhydrate mehr zu essen, dazu am Dienstag und Mittwoch “Entleerungsläufe”. Diese Tage verbrachte ich gerade in Berlin, den Schauplatz meines bisher größten Marathon-Triumphes: Eine Verbesserung meiner damaligen Bestzeit von ca. 3:20h um 10min auf gut 3:10h. Wie der Zufall so spielte, befand sich auch noch mein Hotel ganz in der Nähe des Ernst-Reuter-Platzes, wo der Berlin-Marathons immer gestartet wird. Was lag näher als die Straße des 17. Juni durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor zu laufen? Weiter entlang Unter den Linden bis zum Palast der Republik. Da mußte ich mich erst einmal bremsen, schließlich mußte ich auch wieder zurück laufen. Ergebnis: statt 45min bin ich 60min gelaufen. Was solls, dafür hatte ich mich wieder intensiv an den Lauf im vergangenen Jahr erinnert. Das kann als Motivation ja auch nicht schaden, oder? Am Mittwoch bin ich dann mit fast leerem Magen den “großen Entleerungslauf” gelaufen. 90min kreuz und quer durch den Tiergarten können schon ganz schön lang sein… Aber dafür sollte dann auch das letzte abgespeicherte Kohlenhydrat im Körper verbraucht sein. Durch diese Hyperkompensation soll der Körper dann mehr Kohlenhydrate speichern können, als wenn man die Speicher vorher nicht völlig leert. Ob’s wirklich so ist, kann ich nicht sagen, aber der Glaube soll ja Berge versetzen. Jedem Ernährungswissenschaftler hätte es jedenfalls die Nackenhaare aufgestellt, wenn er gesehen hätte, welche Berge von Nudeln ich anschließend abends um 10 Uhr noch verdrückt habe.
Einen Effekt hatte aber das Training zusammen mit der Ernährung: Ich konnte den Fettgehalt in meinem Körper auf den Traumwert von 8.3% (gemessen am Freitag) drücken. Auf diese Weise motiviert, verschwendete ich auch keinen Gedanken mehr am meine Vorbereitung. Vor mir nur noch das große Ziel: 3 Stunden!
Sonntag, 15. Oktober 2000, 8 Uhr 30. Auch durch die Tatsache, daß der MVV (Münchner VerkehrsVerbund) die U-Bahnen nur im 10 Minuten Takt zum Start nach Freimann fahren ließ und diese dann entsprechend überfüllt waren, ließ ich mich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Noch etwas Vaseline und Hansaplast an strategisch wichtige Körperstellen angebracht und die Umziehsachen im Chaos an den Wägen noch schnell abgegeben. Dann war ich bereit für den Start.
Der Start eines Marathons ist aus meiner Sicht immer ein erhebendes Gefühl: Laute Musik (zum Start der Skater gegen 08 Uhr 45 gab es Darude’s Sandstorm, ein Lied, das ich dann den ganzen Lauf im Ohr hatte), die Kommentare des Sprechers, die halb bewundernden halb mitleidigen Blicke der Zuschauer und die gegenseitige Motivation der Läufer. Wenn man sich der Stimmung öffnet, dann ist das schon fast ein Grund, einmal einen Marathon zu laufen.
Um 9 Uhr dann der Startschuß durch OB Ude. Als ich über die Startlinie laufe (und damit meine persönliche Netto-Zeit anfängt zu laufen), dann ist Schluß mit lustig. Schließlich wollen 42 km und 195 m in weniger als 3 h bewältigt werden. Auf dem ersten Kilometer geht’s noch recht gemütlich zu, schließlich ist noch recht viel Gedränge und das Feld dicht zusammen. Als ich den ersten Kilometer passiere, ein kurzer Blick zur Uhr und eine kleine Überraschung: 4:30min. Das ist für den ersten Kilometer ordentlich und kommt mir viel langsamer vor. Wenn das mal kein gutes Zeichen ist.
Die nächsten Kilometer versuche ich, mein eigenes Tempo zu finden und halte Ausschau nach jemanden, der das gleiche Tempo läuft. Eine Gruppe, an die ich mich angehängt habe, lasse ich bei Kilometer 4 oder 5 wieder laufen, sie sind doch zu schnell bzw. schneller geworden. Ab Kilometer 5 habe ich mein Tempo im Griff. Da waren die Tempoeinheiten im Training doch ganz nützlich.
Inzwischen habe ich auch wieder einen gefunden, an den ich mich ranhängen kann, der ziemlich genau mein Tempo läuft. Das Tempo kommt mir recht moderat vor, und obwohl ich nicht jeden Kilometer abstoppe, sehe ich doch, daß ich genau im selbst gesteckten Zeitrahmen liege. Den Kilometer 10 passiere ich fast exakt in 43 Minuten, das ist genau im Plan. Leise regen sich Gedanken im Hinterkopf, ob das Tempo nicht doch zu hoch ist (in Berlin hatte ich ungefähr 45 Minuten benötigt), doch die werden wieder beiseite gefegt, schließlich peile ich 3 Stunden an und nicht 3:10h! Irgendwann überhole ich dann meinen Vordermann, weil er doch langsamer geworden ist. Schneller bin ich selbst nicht geworden, das habe ich im Gefühl.
Von da an laufe ich ohne Vordermann, ich kann keinen mehr finden, der mein Tempo läuft. Zwischen Kilometer 14 und 17 ist auch keine weitere Motivation nötig, die Zuschauer stehen dicht an dicht, von der Ludwigstraße über den Marienplatz bis zum Viktualienmarkt. Am Marienplatz läuft es mir gleich zweimal kalt über den Rücken, die Stimmung dort ist fantastisch. Dort geht die Streckenführung auch gleich zweimal vorbei. Diese Bilder sind für das persönliche Erinnerungsalbum vor dem inneren Auge, das vergißt man so schnell nicht wieder.
Ich laufe weiter, doch tief in meinem Inneren fühle ich schon: Ohne besondere Umstände werde ich das Tempo nicht durchhalten können (also doch die langen Läufe!).
Den Halbmarathon absolviere ich mit knapp 1:31, einer Zeit mit der noch alles drin ist! Doch ab Kilometer 22 spüre ich es: Meine Beine werden schwerer und schwerer. Diese Gefühl kannte ich vom Training überhaupt nicht, warum gerade jetzt, warum? Aber ich laufe weiter, denn für eine neue Bestzeit reicht das Tempo noch locker aus, wenn ich auch wohl ein wenig langsamer geworden bin. Ab diesem Zeitpunkt sehe ich auch kaum mehr auf die Uhr, ich kann das Tempo auch so im Inneren abschätzen. Ich bin immer noch schnell genug!
Bis Kilometer 31, als die fünf Kilometer lange Schleife zum Unterföhringer Medienzentrum beginnt! Ich hatte mir die Strecke vorher nicht im Detail angesehen, mein Plan ist im Prinzip einfach: schnell genug laufen. Aber dieses Teilstück empfinde ich als die Hölle, zumal die Temperaturen auch auf über 15 Grad (schätze ich) angestiegen waren. Das liegt deutlich über meiner Marathon-Betriebstemperatur! Schön für die Zuschauer, schlecht für mich. Außerdem kommen mir die schnelleren Läufer entgegen, die die Schleife schon gelaufen sind. Darunter sind auch zwei, mit denen ich zeitweise zusammen trainiert habe. Und die sehen noch (relativ) frisch und konzentriert aus, und ich? Ich habe das Gefühl, daß ich mich gleich übergeben muß. Da kommt mir jede noch so banale Steigung vor, wie der Anstieg auf den Mount Everest! Leider ist auch die Zuschauerdichte gerade in diesem so schwierigen Teilstück recht gering, so daß ich mich auch nicht von den Zuschauern motivieren lassen kann.
Als ich mich so ungefähr 2 Kilometer gequält habe, greife ich zum letzten Mittel: Eine Packung Power Gel, die ich vorsichtshalber mal mitgenommen hatte. Ich drücke mir den Inhalt der Packung in den Mund und trinke noch etwas Wasser dazu. Der süße Geschmack ist einfach widerlich im Mund, aber wenn es hilft? Ich laufe (oder besser trabe) noch einige hundert Meter, doch dann kann ich nicht mehr. Ich muß ein paar Schritte gehen (ich weiß, Schande über mich) und die immer mehr schmerzenden Oberschenkel etwas dehnen. Dann laufe ich weiter. Komischerweise geht es jetzt wieder einigermaßen. Hätte ich das Power Gel etwa schon 10min früher nehmen sollen? Ich weiß es nicht. Jetzt ist es jedenfalls zu spät, darüber nachzudenken.
Die nächsten Kilometer laufen nach dem gleichen Schema ab, wie immer, wenn ich nicht mehr kann: Ich frage mich, warum ich das ganze eigentlich immer wieder mache? Ich hänge mich an Läufer dran, um ein paar hundert Meter mitzulaufen und dann festzustellen, daß sie mir doch zu schnell sind und ich sie ziehen lassen muß. Ich überhole Läufer, die gerade gehen und die mich dann 50m weiter im fulminanten Spurt überholen, nur um nach weiteren 50m wieder zu gehen. Irgendwie scheint bei manchen Marathonläufern das ganze Blut in den Muskeln zu stecken und das Gehirn wird zu wenig durchblutet. Diese Spielchen setzen sich die nächsten Kilometer fort, ich werde natürlich auch von Läufern auf Nimmerwiedersehen überholt, die sich das Rennen besser eingeteilt haben als ich. Unter anderem auch von dem Läufer, dem ich am Anfang gefolgt war. Für mich hart, aber er war gegen Ende einfach schneller.
Ungefähr einen Kilometer vor dem Ziel geht’s noch einmal eine Brücke hinauf. Ich bin nahe dran, einfach weiter zu gehen, aber den anderen Läufern geht’s auch nicht besser. Keiner geht, und bis ich lange überlegt habe, bin ich auch schon oben. Von dort beginnt dann ein Triumphzug der Läufer durch das Spalier der Zuschauer. Diese Stimmung läßt mich meine ganzen Schmerzen fast vergessen und ich bin sogar noch in der Lage etwas an Tempo zuzulegen. Je näher ich zum Ziel komme, desto lauter wird es. Sollte das ein Grund sein, warum ich immer wieder Marathon laufe? Ich denke mal, es ist einer. Das Ziel in Sicht, zumindest ein angedeutetes Lächeln im Gesicht, unter dem lautstarken Beifall der Zuschauer ins Ziel zu laufen ist schon etwas besonderes, was jemand, der es noch nicht selbst als Läufer erlebt hat, schwer nachvollziehen kann.
Als mich ungefähr 100m vor dem Ziel ein anderer Läufer noch überholt, denke ich mir, durch die Stimmung ganz euphorisch, “so nicht” und beginne einen Endspurt. Leider hat der andere Läufer das mitbekommen und er ist der Meinung, daß er sich nicht überholen lassen will und fängt ebenso an zu spurten. Unter dem Gejohle und dem Beifall der Zuschauer laufen wir beide durchs Ziel. Eingeholt habe ich ihn leider nicht mehr und meine Endzeit von gut 3:11h hat sich dadurch wohl auch nur um Sekunden verbessert, wenn überhaupt, aber das war für mich dann doch noch die Krönung eines Marathons, der zwar nicht so gelaufen ist, wie ich es mir vorgestellt habe, mit dem ich aber am Ende dennoch zufrieden sein kann. Heute war nicht mehr drin!
Also auf ein Neues, nach dem Lauf ist vor dem Lauf, der Boston Marathon am Ostermontag 2001 wartet! Und auf dem Pfad der Erleuchtung vielleicht auch die endgültige Antwort auf die Frage, warum ich mir das immer wieder antue.